Ankicken - das zweite Mal

Auf dem Schulhof in der Ecke für Zweiradfahrer habe ich mich (mal wieder) stundenlang über die Zuverlässigkeit meiner DT 50 M ausgelassen, die selbstverständlich einzig und allein auf meine hervorragende Sachkenntnis bei den Wartungsarbeiten zurückzuführen ist. Dann ist endlich Schulschluß und es  kommt der Moment des Aufbruchs. Ich schäle mich wieder in all meine Lederbrocken, die Sonne lacht vom Himmel (26 Grad im Schatten), ich klappe lässig den Kickstarter zu Seite, vergewissere mich noch kurz, ob auch alle Blicke auf mich gerichtet sind und gebe meinem Baby einen kräftigen Tritt (mit Baby ist das Moped gemeint).

Nichts. Ein zweiter Tritt. Nichts. Ein dritter und vierter. Nichts.

Die Menge wird unruhig.

Ich knicke kurz in der Hüfte ab, um einen Blick auf den Motor zu werfen. Das hilft zwar überhaupt nix, macht aber
immer einen guten Eindruck. In der Regel fühle ich mich in solchen Situationen auch dazu veranlasst, irgendein Teil wenigstens mal anzufassen. Irgendein Teil, egal welches. Es muß nur so aussehen, als ob ich - souverän, wie es ohnehin meine Art ist - mit einem kurzen Griff die Situation zu meinen Gunsten entscheiden könnte.

In dem Moment, wo ich zum fünften Mal mein Bein hebe, weiß ich genau, daß es ohnehin meine letzte Chance ist.
Springt sie an, habe ich gewonnen. Alle würden glauben, daß der zündende Funke durch mein unmotiviertes
Gefummel zustande kam.

Ich setzt zum Kick an. Mitterweile ist es mir schon gar nicht mehr so recht, daß ich ein ständig wachsendes Publikum unterhalte. Mit aller Kraft saust mein stählernder Schenkel nach unten... Nichts.

In meinen Ohren saust es, unter dem Helm herrschen cirka 42 Grad Celsius.
Trotzdem dringen die ersten Wortfetzen an mein Ohr:
"Was'n das für'ne Gurke?"
"Wat nimmt der für die Show oder is dat für lau?"
"Kumma, der schwitzt!"
"Hat der noch andere Hobbys?"
"Schonma mit Sprit versucht? Soll manchmal Wunder wirken!"

Es ist das alte Spielchen - wer den Schaden hat, spottet jeder Beschreibung.

Es hilft nichts. Helm ab, Jacke auf, nur lässig bleiben. Auch die Klassenkameraden, die natürlich schon längst auf ihren laufenden Maschinen sitzen, drehen murrend den Zündschlüssel wieder herum. Nun kommen auch die ersten persönlichen Attacken.

"Echt klasse eingestellt, Hochachtung."

Ich  kontrolliere Benzinschlauch, Benzinhahn, Kerzenstecker, Zündkabel. Alles okay. Spätestens zu diesem Zeitpunkt kommen die ersten guten Ratschläge aus der immer  noch anonymen Masse. Mittlerweile habe ich natürlich auch meine Joppe ausgezogen, die Hitze wirkt in dieser peinlichen Situation doppelt schlimm.

Die ersten Kollegen schleppen ihr Werkzeug an, ich richte mich in Gedanken auf eine längere Aktion ein. Plötzlich bleibt mein Blick am rechten Lenkerende kleben, und ich spüre es eiskalt das Rückrat hochlaufen, um sich dann als frostige Blutleere in meinem Gehirn auszubreiten: Mit einem Schlag habe ich nämlich die Fehlerquelle entdeckt und mir wird blitzartig klar, daß die ganze Blamage wirklich restlos überflüssig war. Doch gleichzeitig durchzuckt mich die Erkenntnis, daß ich mit einem Geniestreich immer noch die Situation retten kann .... außer mir scheint nämlich noch niemand bemerkt zu haben, daß dieser verfluchte Killschalter in der Position "OFF" verharrt.

Während also schätzungsweise sechs Personen damit begonnen haben, meine DT zu zerlegen, beuge ich mich aus Gründen der Tarnung über besagtes Lenkerende, halt um nachzusehen, ob das Vorderrad noch da ist. Dabei lege ich mit einer ungeahnten Fingerfertigkeit den Schalter auf die richtige Stellung um. Ein kurzer Blick in die Runde - scheinbar hat niemand etwas gemerkt. Uff - das war knapp !

Das Blatt wendet sich, ich spüre, wie ich wieder Oberwasser kriege. Daher leite ich den nächsten Schachzug ein, indem ich die hilfreichen Geister mit forschen Worten von meinem Gefährt vertreibe. Mit einem vielsagendem Blick drehe ich dem gaffenden Volk den Rücken zu, gehe vor meinem Triebwerk in die Hocke, den Körper möglichst nahe am Fahrzeug. Nun fahre ich meine geübte Hand an eine Stelle unterm Tank, wo nun wirklich niemand sehen kann, was ich da eigentlich mache. Tatsächlich mache ich ja auch nix, von einem angestrengtem Gesicht einmal abgesehen, wirklich effektiv gar nichts .... Nach ca. zwanzig Sekunden  - theatralisch höchst wirkungsvollen Sekunden - richte ich mich langsam wieder auf, jedoch nicht ohne darauf zu achten, daß sich mein angestrengtes Gesicht in Zeitlupe in ein nachdenkliches verwandelt. Dabei versuche ich den Eindruck zu erwecken, als wenn vor meinem geistigen Auge ein wahrlich höchst komplizierter, technisch anspruchsvoller Vorgang Revue passiert..

Auch hier halte ich aus dramaturgischen Gründen die zwanzig Sekunden ein - das hat sich schon bei der "Reparatur" als ein guter Richtwert erwiesen.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehe ich den Zündschlüssel, öffne erneut den Benzinhahn und klappe den Kickstarter heraus. Die Situation ist höchst spannungsgeladen, niemand spricht mehr ein Wort. Ich setze an, kicke und zur Verblüffung aller fängt die Mühle an zu klappern. In aller Ruhe beginne ich wieder mit dem Ankleiden, während die Maschine ruhig bei 1250 Touren vor sich hin pöppelt.

Ein Klassenkamerad steht immer noch verblüfft mit seinem Bordwerkzeug in der Hand neben meiner DT, ich mache extra langsam mit den Handschuhen, um ihm Gelegenheit zum Fragen zu geben.

"Was war denn ?"

"Nix Besonderes - Entweder man kennt sein Moped oder man kennt es nicht."


Es kommen keine weiteren Fragen mehr. Ich rücke mich auf der Sitzbank zurecht - erhaben wie selten zuvor - schicke noch kurz einen weltmännischen, lässigen Gruß in die Runde und mache mich in aller Ruhe vom Hof.

Hinter mir bleibt eine weiterhin staunende Menge zurück, der ich wieder mal eindrucksvoll gezeigt hast, daß man wirklich nicht davor zurückschrecken muß, ein klassisches Motorrad mit all seinen kleinen Mucken zu fahren. Vorausgesetzt, man hat den nötigen Sachverstand.

Dago